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Mit neuem Lenker an die Paralympics?

ETH-Student Luca Hasler hat für die Paraathletin Flurina Rigling einen neuen Velolenker entwickelt. Damit soll sich die Radfahrerin unter anderem für die Paralympics 2024 in Paris qualifizieren.

Artikel der ETH von Christoph Elhardt

250 Meter lang ist die Radrennbahn im Tissot Velodrome im solothurnischen Grenchen. Die Kurven der 7 Meter breiten und mit sibirischer Fichte verkleideten Bahn ragen steil nach oben. Umringt wird sie von 3500 Zuschauerplätzen, die an diesem Tag leer bleiben. Trotzdem ist es nicht leise, denn laute Elektrobeats füllen bereits früh am Morgen die Halle. Allein und konzentriert dreht Flurina Rigling eine Runde nach der anderen auf ihrem roten Rennvelo. Es ist ein besonderer Tag für die 26-jährige Schweizer Paraathletin, die eine Beeinträchtigung an beiden Händen und Füssen hat: Zum ersten Mal testet sie ihren neuen Velolenker.

Luca Hasler steht neben der Rennbahn und schaut gebannt auf die beiden Bildschirme der Zeitmessung. Der ETH-Maschinenbaustudent hat den Lenker im Rahmen seiner Masterarbeit entwickelt. Das schwarze Teil aus Aluminium mit den auf Riglings Hände zugeschnittenen Griffen aus Kunststoff hat in den letzten sechs Monaten sein Leben bestimmt. In unzähligen Stunden hat er gemeinsam mit Rigling daran herumgetüftelt. Doch ist die Sportlerin damit tatsächlich schneller? Und fühlt sich der neue Lenker auch unter Wettkampfbedingungen sicher und komfortabel an?

Doch zunächst ein Blick zurück. Flurina Riglings Aufstieg im Paracycling ist kometenhaft. Obwohl sie erst seit drei Jahren regelmässig auf dem Rennvelo sitzt, kann sich ihre Erfolgsbilanz sehen lassen: Vizeweltmeisterin im Zeitfahren, Europameisterin auf der Strasse und Weltmeisterin mit neuem Weltrekord auf der Bahn. All dies erreichte die Zürcherin, die aktuell die Spitzensport Rekrutenschule absolviert, mit einem Lenker, der alles andere als optimal ist: Rigling platzierte bislang ihre Hand auf einem etwa 3 Zentimeter breiten Kragarm. Bremse und Schaltung bediente sie mit ihrem einzigen Finger.

Das war nicht nur unbequem, da der gesamte Druck auf einem Punkt liegt, sondern führte auch zu einer ungünstigen Körperhaltung und damit Aerodynamik. Das kann über Sieg oder Niederlage entscheiden. «Mir war schon seit einiger Zeit klar, dass ich einen neuen Lenker brauche», so Rigling. Sie wusste nur lange nicht, wer ihr dabei helfen könnte.

Besondere Masterarbeit
Flurina Rigling wird schliesslich bei Peter Wolf vom Sensory-Motor Systems Lab der ETH Zürich fündig. Dieser schreibt das Projekt als Masterarbeit aus und kann im Frühjahr 2022 den 26-jährigen Luca Hasler dafür gewinnen. «Das Thema war perfekt für mich, da ich mich für angewandte Produktentwicklung interessiere und selbst Rennvelo fahre», erinnert sich Hasler. Er hat ein halbes Jahr Zeit, um den neuen Lenker zu entwickeln.

Doch wie geht man so eine Aufgabe an? «Ich habe zunächst versucht, das Problem so gut wie möglich zu verstehen und mich in Flurinas Situation hineinzuversetzen», erklärt der ETH-Student. «Empathize», heisst das im Fachjargon des Design Thinking, jener Methode, mit der Hasler arbeitet. Dafür besucht er Rigling im Juni 2022 bei den Schweizer Meisterschaften im zürcherischen Steinmaur. Er sieht zum ersten Mal, wie sie ihren Lenker hält, und versteht, worauf es ankommt: «Da sich Flurina mit einem Finger schlecht am Lenker festhalten kann, braucht es massgeschneiderte Auflageflächen für ihre Hände, mit denen sie das Velo sicher, komfortabel und aerodynamisch steuern kann.»

Richtige Form finden
Auf der Grundlage dieser Informationen hätte man den Lenker üblicherweise am Computer entworfen, produziert und getestet. Doch das klappt in diesem Fall nicht, da Hasler noch gar nicht weiss, wie die Auflagefläche für Riglings Hände aussehen soll. Er muss ein Verfahren entwickeln, mit dem er diese komplexe Oberfläche möglichst einfach, schnell und günstig definieren, testen und optimieren kann.

Der Maschinenbaustudent wird fündig, als er die Rehaklinik in Bellikon besucht, um mit Riglings Orthopädietechniker zu sprechen. Dieser empfiehlt ihm einen thermoplastischen Kunststoff, der sich ab einer bestimmten Temperatur verformen lässt. Perfekt, um die Struktur von Riglings Händen grob abzubilden.

Doch deren feine Konturen kann Hasler so nicht erfassen. Dafür braucht er ein flexibleres Material. Auch hier lässt sich der ETH-Student von der Orthopädietechnik inspirieren und entscheidet sich für ein schnell aushärtendes Knetsilikon, das auch bei Fingerprothesen zum Einsatz kommt. Mit diesen beiden Materialien und zahlreichen anderen Werkzeugen im Gepäck macht sich der Maschinenbaustudent an einem warmen Sommertag auf den Weg zur Radrennfahrerin.

Hedingen, auf dem Bauernhof der Familie Rigling. Wo der Blick auch hinfällt: Wiesen und Wald.  Es ist früh am Morgen, als Hasler und Rigling zu arbeiten beginnen. Ihr Ziel: die passende Auflagefläche für den Lenker zu finden. Mit dem weichen Thermoplast, den Hasler an Riglings Hände anpasst, definiert er zunächst die Länge und Breite der Griffschale. Anschliessend trägt er das Knetsilikon auf und befestigt die Teile mittels Testlenker auf Riglings Rennvelo. Auf dem Velo sitzend, kann die Parasportlerin nun ihre Hände in das Silikon drücken. Dadurch wird deren Form während des Velofahrens abgebildet. Der erste Prototyp entsteht. Es wird nicht der letzte an diesem Tag sein.

Bis spät in die Nacht experimentieren die beiden mit unterschiedlichen Varianten, bis sie sich in kleinen Schritten einer Auflagefläche annähern, mit der sich Rigling wohlfühlt. Rapid Prototytping heisst diese Methode. Rigling ist beeindruckt davon, wie systematisch Hasler vorging: «Luca war ein Glücksfall für mich. Nach diesem Tag war ich mir sicher, dass wir gut zusammenarbeiten werden», erinnert sie sich.

Doch wie schafft es Hasler, diese einzigartige Form zu produzieren? Zurück an der ETH digitalisiert er die beiden Griffformen mit einem 3D-Scanner. Nur am Bildschirm kann der Maschinenbaustudent sie für die Produktion aufbereiten und mittels Simulationen auf unterschiedliche Belastungen testen. Zudem entwickelt er eine Konstruktion, mit der er die neu entwickelten Auflageflächen am alten Lenker von Rigling befestigt. «So konnte Flurina die neuen Teile auch beim Fahren testen, ohne dass wir gleich den ganzen Lenker teuer produzieren mussten.»

Rigling und Hasler tauschen sich zwischen Juli und Dezember regelmässig aus, um die Auflagefläche zu optimieren und sie so am Lenker zu befestigen, dass die Paraathletin möglichst aerodynamisch auf ihrem Velo sitzt. Nur wenn sie die neue Auflagefläche in möglichst vielen Situationen testet und dem ETH-Student immer wieder Feedback gibt, kann er den Lenker optimal auf ihre Bedürfnisse ausrichten. Dies erfordert Zeit und eine ganze Menge Geduld. «Dass wir uns auch privat gut verstanden haben, hat dieses ständige Hin und Her zwischen Feedback und Anpassung extrem erleichtert», sagt Hasler.

Paralympics im Visier
Ob sich all die Mühen gelohnt haben, zeigt sich letztlich auf der Rennbahn. Nach einer guten Stunde im Velodrome Grenchen mit dem neuen Lenker am Velo rollt Flurina Rigling erschöpft über die Ziellinie. Sie legt die Strecke um 6 Prozent schneller zurück, und das bei gleichem Kraftaufwand wie bei der Testfahrt mit dem alten Lenker. «Das sind Welten im Radsport und wahrscheinlich durch die kompaktere Position am Velo zu erklären», so die Paraathletin. Doch damit nicht genug: Auch der Druck auf ihre Hände ist nun besser verteilt, was die Steuerung ihres Velos komfortabler und sicherer machen sollte.

Luca Hasler strahlt über beide Ohren als er das Ergebnis am Bildschirm sieht: «Schön zu sehen, dass sich all die Arbeit ausgezahlt hat.» Er und Rigling sind in den letzten Monaten Freunde geworden. Sie wollen auch in Zukunft zusammenarbeiten, um den Lenker für Riglings Zeitfahrvelo anzupassen und ein neues Trinksystem zu entwickeln. Riglings grosses Ziel ist die Qualifikation für die Paralympics 2024 in Paris. «Wenn ich mich qualifiziere, begleitet mich Luca als technischer Helfer.»

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