Leo McCrea läuft den langen Gang entlang, der vom Schwimmbecken wegführt, in dem er an diesem Sonntagabend gerade seinen grössten Erfolg seiner Karriere als Schwimmer errungen hat. McCrea geht vorbei an zahlreichen Kameras und Mikrofonen, denn ganz zuhinterst wartet eine Gruppe der Schweizer Delegation. Er umarmt seinen Trainer Amin Jaza, die stellvertretende Chef de Mission Olivia Stoffel und Nora Meister, die auch an ihrem freien Tag in die Schwimmhalle gekommen ist, um ihren Teamkollegen anzufeuern. WM-Silber 2023, EM-Bronze 2024. In Paris vervollständigt McCrea den persönlichen Medaillensatz in seiner Lieblingsdisziplin über 100 m Brust. Und holt die bedeutendste Medaille am prestigeträchtigsten Wettkampf überhaupt.
Unbekümmertheit und Hingabe
Nach seinem ersten Auftritt im paralympischen Becken über 200 m Lagen hatte McCrea in der modernen La-Défense-Arena den Blick schon auf den Sonntag gerichtet und auf die Frage, ob er in seiner Paradedisziplin die Goldmedaille ins Visier nehme, geantwortet, «Yeah, why not?» Ja, warum nicht?
Es sind drei Worte, die einiges über den gebürtigen Engländer aussagen, der seit fünf Jahren für die Schweiz an den Start geht. Worte, die von einer gewissen Unbekümmertheit zeugen, wie man sie eben im Alter von 20 Jahren noch hat. Worte aber auch, hinter denen eine riesige Portion Wille und Hingabe steckt. «Dedication», wie er es nennt.
Als McCrea bei den Paralympics von Tokio 2021 als Fünfter anschlug, begann in ihm der Wunsch zu wachsen, es bei seinem nächsten Auftritt unter den paralympischen Agitos besser zu machen. «Ich habe viele Jahre dafür gearbeitet, dass ich jetzt hier bin», sagt er und erzählt von den vielen Trainingsstunden in der Schwimmhalle in Poole, unweit von Bournemouth, wo er aufgewachsen ist, den Sitzungen mit seinem Trainer Amin Jaza, den harten Sessions im Kraftraum und der Arbeit im mentalen Bereich, die ihm hilft, mit der Belastung eines Spitzenschwimmers zurecht zu kommen.
Die Nachrichten der Mutter
Der Fan des Fussballklubs Crystal Palace schwimmt, seit er sechs Jahre alt ist. Und nachdem er in Tokio seine ersten Paralympics erlebt hatte, wusste er, wie viel er investieren musste, um seinem Traum von paralympischem Gold näher zu kommen.
Seine Familie, sagt er, habe er schon seit einiger Zeit nicht gesehen. Nur manchmal habe er mit der Mutter Textnachrichten ausgetauscht. Der Sohn einer Waadtländerin und eines Engländers schottete sich in den letzten Monaten bewusst ab. Äussere Einflüsse sollten ihn nicht von seinem Weg abbringen, in Paris zu Gold zu schwimmen.
Umso emotionaler war für McCrea der Moment, als er seine Eltern, seine Schwester, Onkel, Cousins und Freunde auf der Tribüne erblickte. Sie alle waren gekommen, um zu sehen, wie ihr Leo die Früchte seiner Arbeit erntet. Die 1:27,15 Minuten für die 100 m bedeuten eine persönliche Bestleistung. Die Gegner distanziert er um mindestens zwei Sekunden.
«Ich habe nach links und nach rechts geschaut, aber niemand war da. Ich habe einfach meine Familie gesehen, und das war wunderbar», sagt er, der mindestens 20 Stunden pro Woche ins Training investiert hat. «Diese Medaille zeigt, dass man mit harter Arbeit alles schaffen kann», sagt er. Doch die nächsten Wochen sollen etwas ruhiger werden. McCrea gönnt sich ein «Break», bevor er sein nächstes Ziel ins Auge fasst. «Zuerst geniesse ich den Moment. Es fühlt sich wie im Traum an.»
Text: Simon Scheidegger (Keystone-SDA), Paris
Fotos: Swiss Paralympic | Gabriel Monnet und Tobias Lackner
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